Der Fluch des Wichren

Am nächsten Morgen stehen wir früh auf und gehen im Licht der ersten Sonnenstrahlen mit unserem Gepäck die Straße bis zur Hütte Wichren. Wir nehmen uns schon ein Zimmer und lassen unser Gepäck dort, um nur mit dem nötigsten den heutigen Tag zu bestreiten. Es wird auf den höchsten Berg des Pirin gehen, denn gleichnamigen Berg Wichren. Vorher gibt es in unserer vorherigen Hütte aber noch ein gutes Frühstück.

Der Aufstieg ist schwer. Es geht steil bergauf. Zuerst durch einen Kiefernwald, dann einen Hang aus Schotter hinauf. Die Fliegen und die Stechmücken lassen uns kaum in Ruhe. Ein sehr sportliches Paar überholt uns und kommt uns nach einiger Zeit wieder entgegen, als wir uns mühsam das Geröll hinauf kämpfen.

Die beiden Leute haben dasselbe Ziel wie wir, nämlich den Gipfel des höchsten Berges, doch der Weg hier scheint falsch zu sein. Sie deuten auf den richtigen Weg auf der anderen Seite des Hanges, dessen direkter Zugang durch lose Felsen und dichte Sträucher versperrt ist.

Die Moral ist in Keller, aber es hilft nichts. Wir müssen wieder einen gefährlichen Abstieg wagen, damit wir wieder auf den richtigen Weg kommen. Ständig rutschen wir auf dem losen Untergrund aus und es gibt kaum etwas, um sich festzuhalten.

Wir werfen uns das Gepäck zu, damit jeder einzelne weniger Gewicht hat, und erreichen unter großem Aufwand wieder die Stelle, an der wir schon gewesen sind, um den anderen Weg einzuschlagen, der kaum sichtbar und nicht markiert ist. Ich bekomme Probleme mit der Atmung und mir wird klar, dass ich es nicht bis zum Gipfel schaffen werde heute.



Wir kommen unglaublich langsam voran. Der Weg ist steil und beschwerlich, es gibt kaum Schatten, dafür viel Staub, die Fliegen umschwirren uns in Schwärmen und die Stechmücken werden durch Pferdebremsen abgelöst, deren Biss höchst schmerzhaft ist.

Wir machen viele Pausen für Wasser und neue Kraft. Uwe war überzeugt davon, dass ein halber Liter für den Tag reichen würde, daher trug ich zwei weitere Liter, da ich wusste, dass diese nötig sind und wir nicht wissen, wie häufig wir Quellen finden. Dafür ging mir ständig die Kraft aus, was ich mir nicht erklären kann. Vielleicht sind es noch Nachwirkungen der Covid-19 Impfung, vielleicht bin ich trotz der ganzen Wanderungen im Schwarzwald und der Schweiz in der jüngsten Zeit durch Corona so unsportlich gewesen, dass diese Belastung nun zu groß ist. Das Alter setzt ein, wo es früher egal war, was ich getan oder gegessen habe. So vergeht die Zeit.

Unterwegs kommen und plötzlich ein paar Gämsen entgegen, die dann plötzlich wieder an uns vorbei galoppieren. Dann geht es wieder steil bergauf. Uwe ist in top Kondition und ich merke seine zusätzliche Motivation durch meine Schwäche. Sonst läuft er hinterher.

Dann ist da vor uns Eis, wo eigentlich der Weg sein sollte und wir klettern mühsam um das Feld herum, damit wir kein Ausrutschen oder Einbrechen riskieren. Nach der dahinterliegenden Felsengruppe folgt das nächste Feld und wir blicken ehrfürchtig auf die steile Nordseite des Berg Wichren und zahlreiche weitere Schneefelder. Plötzlich hören wir eine Stimme über uns: “wonach haltet ihr denn Ausschau?”.

Die Stimme gehört zu einem schräg aussehendem Typen, dem ein Schneidezahn und ein Hemd fehlen und der viel zu kleine Brillengläser auf dem Gestell auf seiner Nase trägt. Er ist ein Vogelbeobachter und in unseren Augen selbst ein schräger Vogel, der zu viel Zeit alleine zwischen den Felsen verbracht hat und nun eine Menge Dinge irgendwem mitteilen möchte. Es dauert etwas, als wir uns von dem Typen lösen können und den Weg zur Schutzhütte antreten, die einen Meilenstein zum Gipfel ausmacht.



Da Uwe noch heiß darauf ist seine neugewonnene Kondition auszuprobieren biete ich ihm an noch etwas voraus zu gehen, während ich mit bei der Hütte warte. Beide beschließen wir, dass die Besteigung des Gipfel mit dem Schnee keine gute Idee sei. Und meine Kondition ist am Ende. Ich warte eine Zeit, während Uwe eine Runde dreht, bis wir wieder den Abstieg angehen. Der fällt mir körperlich wieder komplett leicht.

Bei unserer Rückkehr wartet der Besitzer der Hütte schon mit frisch gepressten Orangensaft auf Ankömmlinge. Während wir einem nach dem anderen davon schlürfen fällt uns ein Weltreise fertiger Landrover Defender mit Bonner Kennzeichen auf. Wir können nicht anders als den Besitzer sofort anzusprechen.

Uli erzählt uns, dass er gerade Urlaub macht und diesen mit dem fahrbaren Untersatz im Balkan verbringt. Stolz zeigt er uns auch den Ausbau seines Wagens, das Dachzelt und die Innenausstattung. Wir verbringen einen schönen Abend mit unseren Geschichten und amüsieren uns mit Ulis elektrischer Fliegenklatsche, mit der wir uns alle Stechmücken der Umgebung mit Vergnügen vom Hals halten.